Lektionen in Gelassenheit
Zugegeben, es war ein ausgesprochen ambitionistisches Vorhaben. An einem Sonntag Abend nach einem langen Wochenende versuche ich mit Fahrrad und umfangreichen Gepäck eine Heimfahrt mit dem Zug vom Genfer See in das Ruhrgebiet in drei Zügen. Vertrauend auf Schweizer Gründlichkeit und Perfektion sah ich eigentlich keine grossen Probleme auf mich zukommen. Hatte ich doch ausreichend Umsteigezeit. Wie sollte ich mich doch täuschen.
Schritt 1: Lausanne – Bern
19:11 Uhr stand auf meiner Reiseverbindung – 19:11 Uhr stand auf der Bahnhofsanzeige und bestätigte damit meine hohe Meinung auf die Schweizer Pünktlichkeit. Und auch die zuvor einkalkulierte Extrazeit war nahezu aufgebraucht, liegt doch der Bahnhof circa hundert Höhenmeter oberhalb des Genfer Sees. Dies führt zu einem nicht unerheblichen Schlussanstieg. So schaffe ich es gerade noch mit meinen letzten Franken eine Ziegenkäse-Ciche und ein kühles Kaltgetränk anzuschaffen und freue mich schon auf ein gemütliches Abendessen mit vorüberziehender Schweizer Landschaft.
Die Pünktlichkeit ergibt sich sicherlich aus einer unkomplizierten Zustiegsmöglichkeit, denke ich noch. Aus diesem Grunde mache ich mir auch keine Gedanken über Kinderwagen, Reisetrollies in Schrankwandformat etc… auf dem Bahnsteig. Der überpünktlich einfahrende Zug von Genf hat nur ein anderes Problem. Überfüllung. Zwei Zustiege sind schon überfüllt, bevor ein Schaffner mir mit wild wedelnden Armen eine Zustiegsmöglichkeit zuweist. Ja, ich weiß, der Pünktlichkeitsindex.
Ich war noch auf der Treppe und stemme gerade meine dreissig Kilo in das Abteil, als der Zug schon anfährt. Sechs Jugendliche stemmen eifrig einige Rollcontainer beiseite und stapeln Sie tetrisartig. Mitten im Gang finde ich halbwegs Platz. Eine verschlossene Tür ist letztlich meine Rettung. So kann ich niemanden im Weg stehen, komme aber weder vor noch zurück und beglücke mich mit meiner Ciche im Stehen. Ohne Aussicht auf die wunderbare Schweizer Landschaft.
Schritt 2: Bern nach Basel
Natürlich pünktlich komme ich in Bern an. 45 Minuten zum relaxten Umstieg. Bern habe ich als entschleunigte Stadt kennengelernt und an diesem lauen Sommerabend springt die Stimmung sofort auf mich über. Vergessen waren die Strapazen des ersten Zuges. Ich lasse mich noch ein wenig im Bahnhofsumfeld treiben und komme tiefenentspannt zehn Minuten vor Abfahrt auf meinem Gleis an.
Zeitgleich mit meinem Zug, der gerade überpünktlich einfährt. Ich reihe mich also am Fahrradabteil in die Schlange der Einsteigenden ein, als eine Stimme hinter mir freundlich aber bestimmt meint:
„Mit dem Rad können Sie nicht in den Zug einsteigen…“
„Hmmm, warum steht denn hier deutlich ein Fahrradsymbol und die Bahnverbindung weist mir den Zug mit Fahrradtransport aus?“
„Sie müssen die Fußnote G lesen, da steht es herinnen. Sie können mitfahren, aber das Fahrrad bleibt hier.“
Für einen kurzen Moment wäge ich die Chancen ab, über die Fußnote G mit einer Schweizer Bahnbeamtin zu diskutieren. Ihren Vorschlag, mein Rad mit Gepäck hier stehen zu lassen, lege ich sofort ad acta.
„Ich habe eine Weiterfahrt in Basel, ich möchte diesen Zug erreichen. Was können wir also tun, vielleicht eine Ausnahme von der Fußnote G…“
„Ich kann den Zugleiter fragen“
sprachs und deutete auf den grimmigen ergrauten alten Herren, der gerade in der Diskussion mit einigen anderen Passagieren war und dem die Kompromissbereitschaft mit der Ausbildung verloren gegangen war.
„Oder…“
„Oder Sie nehmen den Zug auf Gleis 7 nach Olten, der nimmt ihr Fahrrad mit. Und von da aus mit der S-Bahn nach Basel. Das könnte gehen, allerdings müssten Sie sich beeilen, der Zug fährt in zwei Minuten.“
Sie hatte den Satz noch nicht zuende gebracht, da sitze ich schon auf dem Rad und radle auf dem Bahnsteig an dem Zugleiter vorbei in Richtung Gleis 7. Rampe runter, vom Fahrrad absteigen und im Laufschritt zu Gleis 7. Bei der Polizeipräsenz wollte ich nicht noch eine Diskussion über eine Fußnote G über das Fahrradfahren in Bahnhöfen riskieren. Gleis 7, wieder aufs Fahrrad und die Rampe rauf. Mit dem letzten Piep in den Zug. Hinter mir schlossen sich die Türen und ich stand vollkommen schweißgebadet im Abteil. Sprint gewonnen.
Tatsächlich fuhr der Zug durch bis Olten. Bei den weiteren Anschlüssen stutzte ich allerdings, sollte doch auf dem gleichen Gleis sofort nach uns ein Zug nach Basel… Und richtig, wir waren vor dem Eurocity hergefahren und ich treffe kurze Zeit wieder auf die Bahnbedienstete, die nun drei weiteren Fahrradfahrern erklärt, dass dieser Zug sie wegen der Fußnote G nicht befördert werden.
Intermezzo – Schweizer Gelassenheit
Ich suche mir also eine Alternativverbindung in Form einer S-Bahn nach Basel und muss erneut das Gleis wechseln. Auf der Suche nach einem Lift treffe ich auf einen einheimischen Radfahrer mit Anhänger und wir kommen ins Gespräch.
Ja, die Fußnote G ist ihm nicht unbekannt und er zeigt mir den Lift zur S-Bahn. Dieser sei etwas versteckt. Und als wir auf den Lift zugehen wird es plötzlich hektisch.
Der Grund ist ein älteres Pärchen mit einem Bernhardiner, welches ebenfalls auf den Lift zusteuert. Es entwickelt sich ein Wettrennen und der ältere Herr mit dem Hund hat als erster seinen Finger auf der Taste.
„Naja, nehmen wir halt den nächsten“ biete ich meinem Begleiter an.
„Auf keinen Fall. Die können ihren Köter ruhig beiseite nehmen.“ sagt er und fährt mit Schwung in die Kabine. Vielleicht hätte er nicht Köter sagen sollen, der ältere Herr erweist sich als rüstig und durchaus handgreiflich. Allerdings scheiterten seine Versuche, das Rad und meinen Begleiter zurückzuschieben, dann doch.
Mir gelingt es gerade noch seinen Anhänger in die Kabine zu verfrachten, als sich die Tür schliesst. Drinnen ist die Temperatur mittlerweile auf 36 Grad erhitzt, die Worte werden lauter und die Handgreiflichkeiten nehmen kein Ende.
Wie schnell „eigentlich ruhige“ Menschen die Lage eskalieren lassen, wundere ich mich noch, während in der Bahnhofshalle die Lage zwischen den Streithähnen immer hitziger wird.
Schritt 3: Olten – Basel
Ich erreichte die S-Bahn ohne nennenswerte Zeitverluste und frage eine ebenfalls abgewiesene Radlerin, ob Sie die Fahrtdauer nach Basel kenne.
„Ungefähr eine halbe Stunde …“
Entspannung tritt ein, ein leichtes „Alles-wird-gut“ Wohlgefühl, doch noch zehn Minuten Zeit zum Umsteigen.
„… wenn die S-Bahn keinen Defekt hat. Und das hat sie oft.“
Danke für diesen Nachsatz. Den hätte es nicht gebraucht. Und so tuckeln wir den zwanzig Haltestellen bis Basel entgegen und hören auf jedes sonderbare Geräusch und fragen uns an jedem Bahnhof. Warum geht die Tür jetzt nicht zu? Was ist denn nun schon wieder?
Ich habe Glück. Meine Lektion in Gelassenheit wird belohnt. Halbwegs pünktlich erreichen wir Basel und ich schiesse aus der S-Bahn um den Nachtzug noch zu erreichen. Fünf Minuten reichen zum Umsteigen.
Der Nachtzug
Geschafft, da steht er. Nun kann doch nichts mehr passieren. Ich habe eine Reservierung für Fahrrad und Sitz in der Tasche, die ich mir von keiner Fußnote G wegdiskutieren lasse. Wagen 3, ganz hinten am Zugende. Und während ich dieses Zugende ansteuere wundere ich mich noch, das Abteil 5 so überfüllt ist.
Um dann festzustellen, das mein reserviertes Abteil leider einen Defekt an den Türen hat und damit unbrauchbar ist. Und damit hat sich auch meine Reservierung aufgelöst.
Ich trotte also zurück zu Abteil 5 und treffe auf neun Räder bei zehn Stellplätzen. Das lange Wochenende haben wohl viele Radbegeisterte für einen kurzen Trip nach Basel genutzt. Diese sind die chaotischen Zustände der Deutschen Bahn in punkto Fahrradtransport gewöhnt und wir arrangieren uns untereinander, das bestehende Reservierungen nicht genutzt oder durchgesetzt werden.
Ein schöner Abschluß, der zeigt, wie mit Gelassenheit auch chaotische Zustände freundlich und vollster Zufriedenheit gelöst werden. Da kann dann auch der grummelige Zugbegleiter mit seinem „Aber…“ die einträchtige Harmonie und Solidarität nicht brechen.
Nachtrag
Die Fußnote G gibt es tatsächlich. Sie besagt, daß Fahrradmitnahme in dem betreffenden Zug nur bei grenzüberschreitendem Verkehr zulässig sei
(…)